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Loveparade-Strafverfahren eingestellt: Planer waren nicht alleine Schuld

Gutachter Gerlach: Multikausale Zusammenhänge als Ursache der Katastrophe
Von Petra Grünendahl

Der Vorsitzende Richter Mario Plein (mitte) vor der Verkündung der Einstellung des Verfahrens: Zehn Jahre nach der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten stellt das Landgericht Duisburg das Verfahren ohne Urteil ein. Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services.
„Es gab zwei neuralgische Punkte, die in der Planung durch die Angeklagten nicht ausreichend bedacht wurden: Der Übergang von der Rampe auf den Event-Bereich der Veranstaltung und die Vereinzelungsanlagen“, erklärte der Vorsitzende Richter Mario Plein. Die seien aber nicht alleine ursächlich für die Katastrophe gewesen. Der Vorsitzende Richter war bemüht, den Verletzten und Hinterbliebenen sowie den Besuchern im Gerichtssaal, die Gründe und Ursachen zu erläutern, die zum Unglück mit 21 Toten und über 650 Verletzten und Traumatisierten geführt hatten. Der Beschluss des Gerichts sei auf die Zeugenaussagen sowie das Gutachten von Prof. Dr. Jürgen Gerlach gestützt, so Plein. Diese 3.800 Seiten starke Schrift habe das Gericht seiner Entscheidung vollumfänglich berücksichtigt. Es mache multikausale Zusammenhänge für die Katastrophe verantwortlich, nicht allein die Planungsfehler der Angeklagten. Die Liste der Ursachen beginne, so der Richter in seiner Beschluss-Begründung, mit der Wahl eines Geländes, das für eine solche Veranstaltung völlig ungeeignet war.

 

Letzter Prozesstag in der Aussenstelle des Landgericht Duisburg auf dem Gelände der Messe in Düsseldorf: Die Stühle im Zuschauerbereich des Gerichtssaales stehen wegen der orona-Pandemie nur mit Abstand. Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services.
Die 6. Große Strafkammer des Landgerichts Duisburg hat das Verfahren gegen die drei verbliebenen Angeklagten im Loveparade-Strafverfahren mit Zustimmung der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft eingestellt. Mit diesem Beschluss endet das Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung. Gegen sieben weitere Angeklagte war das Verfahren schon vor über seinem Jahr eingestellt worden. An insgesamt 183 Hauptverhandlungstagen hatte das Gericht 116 Zeugen vernommen. Der Gutachter Prof. Dr. Jürgen Gerlach hatte nach einem vorläufigen Gutachten vor Prozessbeginn die über dreijährige Verhandlung begleitet. Als Richter Plein ihm für den Abschluss-Prozesstermin absagte, habe Gerlach geäußert, dass nach allen bisherigen Zeugenaussagen seinem Gutachten nichts mehr hinzuzufügen hätte. „Wir haben hier keinen Fall, bei dem wir den großen Bösewicht festmachen können. Das Wichtigste ist, dass wir erklären können, wie es zur Katastrophe gekommen ist“, so Plein.

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Zehn maßgebliche Ursachen

Juni 2011: Ansichten der Rampe zum alten Güterbahnhof aus dem Jahr 2011. Fotos: Petra Grünendahl.
Die Ursachen der Katastrophe bezeichnete der Vorsitzende Richter auf die Erkenntnisse des Gutachters gestützt als „multikausal“: Nicht eine alleine sei ausschlaggebend gewesen. Lediglich die Geländeauswahl, die Enge am Rampenkopf und unzureichende Vereinzelungsanlagen gehörten in den Bereich der Planung. Am Rampenkopf, wo der Zugang in den Event-Bereich überging, war nicht ausreichend Platz neben dem Weg der Floats und der mitziehenden Besucher. Neuankömmlinge kamen dort kaum durch. Ordner, so genannte Pusher, waren nicht in angemessener Anzahl vor Ort, um Neuankömmlinge aufs Event-Gelände zu ziehen. Gemessen wurde an dieser Stelle eine Breite von 28,4 Metern (wo 30 Meter für Floats und Mitziehende in der Parade nötig gewesen wären). In einem frühen Plan für die Aufbereitung des Geländes war noch ein Breite von insgesamt 45 Metern angedacht (also 15 Meter für den Besucher-Durchgang), was aber wohl nie realisiert worden ist. Die Zugangsanlagen (Vereinzelungsanlagen Ost und West) hatten für den nötigen Durchfluss (also die Anzahl der Besucher, die gleichzeitig durch den Tunnel gegangen wären) keine ausreichenden Kapazitäten. Es bildeten sich früh Rückstaus am Trichter Grabenstraße / Kommandantenstraße und – noch viel mehr – an der Düsseldorfer Straße / Ecke Karl-Lehr-Straße.

Weitere Ursachen sind am Veranstaltungstag selber zu finden: Massive Störungen in der Kommunikation, die notwendige Absprachen teilweise unmöglich machten, damit verbunden die unkoordinierte Steuerung von Personenströmen und die fehlende Abstimmung von Maßnahmen wegen der Rückstaus vor den Zugangsbereichen sowie zwischen dem Zugang auf das Gelände und der Fläche mit den Musikwagen. Des Weiteren fielen organisatorische Entscheidungen am Veranstaltungstag entgegen vorheriger Absprachen, wurden Zugangsanlagen ohne Abstimmung geöffnet, obwohl ihre Schließung angeordnet war. „Die Polizeiketten dürften mit beigetragen haben“, sagte Plein: Die dritte Polizeikette auf der Rampe habe die Drucksituation auf der Rampe verstärkt. Allerdings sei man beim Einziehen aller drei Polizeiketten davon ausgegangen, dass die Vereinzelungsanlagen an den Zugängen West und Ost vollständig geschlossen wären. Was aber, erklärte Richter Plein, nicht der Fall gewesen sei. Und als schließlich um 16.26 bzw. 16.31 Uhr ein Polizist an der Vereinzelungsanlage West die Ordner anwies* [siehe Anmerkung unten], Zäune zu öffnen – für Richter Plein der „Point of no Return“ –, hatte dies einen ungehinderten Ansturm von Besuchermassen auf den Tunnel (und dann die Rampe) zur Folge. Und auf der Rampe trafen sie dann auf die, die die Veranstaltung verlassen wollten.

Mit dem Auflösen der dritten Polizeikette auf der Rampe verdichteten sich Massen am unteren Ende zu den Magnetpunkten Treppe (unterhalb des Stellwerkhäuschens), Lichtmast und Container des Crowd-Managers, weil Menschen sich dort ein entweichen aus der wogenden Massen erhofften. Im dichtesten Gedränge seien dann Menschen in Schräglage gekommen und gestürzt, schilderte es Mario Plein, und dann erdrückt oder zertrampelt worden. Dort habe man hinterher die Toten gefunden. Das letzte Todesopfer sei vier Tage später (am 28. Juli 2010) im Krankenhaus verstorben. Die nahende Verjährung am 27. Juli sei aber nicht der Grund für die Einstellung des Prozesses gewesen. Eine weitere Aufklärung habe auch Gutachter Gerlach nicht für möglich gehalten. Die Vernehmung weiterer Zeugen hätte das Verfahren jedoch erheblich weiter in die Länge gezogen. Und ob damit einem Einzelnen der Angeklagten noch eine individuelle strafrechtlich relevante Schuld nachzuweisen gewesen wäre, ist fraglich.

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Lehren aus der Katastrophe

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Die Rampe zum Loveparade-Gelände nach der Katastrophe. Foto: Petra Grünendahl.
In der Abschussbesprechung mit Veranstalter Lopavent und allen an der Vorbereitung beteiligten Behörden und Institutionen am 15. Juli seien keinerlei Sicherheitsbedenken oder Einwände mehr geäußert worden, führte der Richter an. Ein hochrangiger, in die Vorbereitung eingebundener Polizeibeamter hatte in seiner Zeugenvernehmung abschließend zur Kenntnis gegeben, seine Kinder seien auf der Loveparade gewesen: Weil alle der Meinung waren, die Veranstaltung wäre sicher!

„Dem öffentlichen Interesse ist auch mit der hier geleisteten Aufklärung Genüge getan“, erklärte der Vorsitzende Richter, „da sich Erkenntnisse auf zukünftige Planungen auswirken. An Veranstaltungsplanungen Beteiligte sind heute sensibilisierter für Sicherheitsprobleme!“ Nach Aufarbeitung der Ereignisse sehe man heute vieles anders und hätten sich auch rechtliche Rahmenbedingungen für ein solches Genehmigungsverfahren entsprechend geändert. Auch Gutachter Gerlach sei der Meinung: Mit einer weiteren Aufklärung wäre nicht zu rechen. So mahnte Mario Plein: „Strafverfolgung kein Selbstzweck, sondern muss auf den Schuldspruch ausgerichtet sein.“ Den könne er aber nicht absehen. Zugunsten der Angeklagten spreche, so Plein, dass sie strafrechtlich nicht vorbelastet seien. Schuld mindernd sei zudem zu werten, dass 2010 gesetzliche organisatorische Regelungen lückenhaft und Rechtsgrundlagen heterogen gewesen seien. Nach der Loveparade 2010 habe sich hier viel getan. „Die Angeklagten haben sich an das damals Übliche gehalten“, so der Vorsitzende Richter, der schloss: „Dies ist keine Verlegenheitsentscheidung: Wir halten sie rechtlich für richtig!“

Für die Angehörigen der Toten, die Verletzten und Traumatisierten wäre es mit Sicherheit einfacher gewesen, wenn man einen schuldig Gesprochenen bestraft hätte. Für die Bewältigung ihres Traumas haben sie jetzt „lediglich“ eine Erklärung der Ursachen, wie es zur Katastrophe kommen konnte. Das ist mit Sicherheit nicht der Abschluss, den sich viele von ihnen gewünscht hätten. Aber der einzige, der in unserem Rechtsstaat möglich war!

*) Der Polizist ist auf einem Überwachungsvideo an der Kreuzung Düsseldorfer / Karl-Lehr-Straße auszumachen, aber nicht zu erkennen. Er ist bis heute unbekannt. Siehe auch hier …

Das Statement der Staatsanwaltschaft Duisburg zur Einstellung des Prozesses

© 2020 Petra Grünendahl (Text)
Fotos: Petra Grünendahl (3), Lars Heidrich / Funke Foto Services (2)

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