Ein Jahr nach dem ersten Lockdown sind neue Konzepte gefragtVon Petra Grünendahl
Nicht erst seit Corona stehen die Innenstädte im Ruhrgebiet unter Druck. Corona und der Lockdown beschleunigen jedoch die Abwärtspirale, die mehr Käufer in den Online-Handel abwandern lässt, der nicht nur corona-konform, sondern auch 24/7 zur Verfügung steht. Händler und Dienstleister sehen sich seit dem ersten Lockdown vor einem Jahr vor großen Problemen: Vor allem inhabergeführte Geschäfte und kleine Selbstständige leiden und können fehlende Einnahmen nicht auffangen. „Die Menschen sind verzweifelt, weil sie ihre Rücklagen angreifen müssen, um zu überleben“, berichtete Dr. Fritz Jaeckel, Hauptgeschäftsführer der IHK Nord Westfalen mit Sitz in Münster / Gelsenkirchen. Wenn die Wirtschaft wieder öffnen darf, wird sich zeigen, welche Geschäfte wieder öffnen: Nicht jeder wird einen Neubeginn schaffen, was unvermeidlich zu einer Insolvenzwelle führen dürfte. Das erhöht die ohnehin vorhandene Zahl der Leerstände, für die Konzepte gefunden werden müssen, um Innenstädte als Verweil- und Erlebnisräume für Menschen wieder attraktiv zu machen. Denn dass sich die Leute nach einem Ende des Lockdowns und eine Rückkehr zu so etwas wie Normalität sehnen, steht außer Frage.
Was nicht auf den ersten Blick im Stadtbild zu sehen ist, zeigt der neue IHK-Handelsreport Ruhr. Der Report, den die sechs Industrie- und Handelskammern des Ruhrgebiets alle zwei Jahre erstellen, lieferte reichlich Stoff für eine Diskussion über die Zukunft der Innenstädte, die über 120 Handelsexperten und Stadtplaner beim IHK-Handelsforum Ruhr online führten. „Die Corona-Pandemie hat den Handlungsdruck extrem erhöht“, unterstrich Fritz Jaeckel. Der bereits seit einigen Jahren laufende Prozess von Strukturveränderungen im Handel, der sich an leerstehenden oder anderweitig genutzten Ladenlokalen ablesen lasse, sei durch die Pandemie enorm beschleunigt worden. „Auf die Innenstädte im Ruhrgebiet kommen tiefgreifende Veränderungen zu, die wir nicht einfach laufen lassen können, sondern gemeinsam positiv gestalten müssen“, forderte Jaeckel. Dipl.-Kaufmann Jörg Lehnerdt von der BBE Handelsberatung GmbH (Köln), der die Ergebnisse des IHK-Handelsreports Ruhr präsentierte, unterstützte Jaeckel: „Noch prägen die großen Fashion-Anbieter die Innenstädte und Shoppingcenter des Ruhrgebiets, allerdings hat der Rückzug aus der Fläche als Folge des boomenden Onlinehandels bereits begonnen. Corona wird diesen Trend beschleunigen.“ Als Frequenzbringer für Innenstädte und Ortszentren sind demnach dringend neue Konzepte gefragt.
Trends und strategische Entwicklungsperspektiven
Traditionsgemäß stand eine „Podiumsdiskussion“ im Mittelpunkt der Veranstaltung, bei der Experten Ideen und Perspektiven aus unterschiedlicher Sichtweise darstellten. Die nötige Vielfalt der Perspektiven brachten Dr. Jan Heinisch, Staatssekretär im Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW, Ariane Breuer, Initiatorin „Die Stadtretter“ und Geschäftsführerin von „Clever expandieren“, sowie David Schraven, Mitbegründer der Marktviertel-Initiative in Bottrop, auf das Podium.
„Der Lockdown bedroht zunächst Handel und Dienstleistungen im Stadtzentrum, dann die Vitalität der Innenstädte insgesamt“, warnte Jan Heinisch vor den weitergehenden Konsequenzen der Entwicklung. Die Experten waren sich deshalb einig, dass die Innenstädte und Ortszentren der Zukunft multifunktional aufgestellt sein müssten. „Stadt ist nicht nur Handel: Stadt ist Leben, also auch Wohnen, Gastronomie, Kultur und Mobilität. Eine Stadt müsse als Erlebnisort konzipiert werden, als Begegnungsstätte und Raum der Kommunikation. Da, wo sich der Einzelhandel aus den Innenstädten zurückziehe, müssten andere Nutzungen rein, betonte Jörg Lehnerdt. Dafür müssten aber auch Immobilienbesitzer mitziehen, die bislang wegen höherer Mieterträge lieber an den Handel vermieteten.
„Die Menschen müssen wieder gerne in die Stadt kommen und dort verweilen“, sagte Ariane Breuer, Sprecherin der „Stadtretter“-Initiative. Und das auch an Sonntagen, wenn der Handel nicht offen habe, ergänzte Jan Heinisch. David Schraven, Mitbegründer der Marktviertel-Initiative aus Bottrop, ist überzeugt davon, dass die Zukunft der Zentren von Kunden und ihrem Engagement vor Ort abhängt. „Wir brauchen mehr davon in den Innenstädten.“ Er appelliert, den Fokus verstärkt auf die Unterstützung für lokale Marketingmaßnahmen zu richten, die Publikum anlocken. Aktuelle Förderprogramme der Landesregierung wie das Sofortprogramm zur Stärkung unserer Innenstädte und Zentren in Nordrhein-Westfalen gingen dabei schon in die richtige Richtung.
Initiativen und Konzepte müssen Kunden mitnehmen
„Ad hoc-Hilfen sollen besonders betroffene Kommunen entlasten, während neue Investitionsspielräume ebenso wie gemeinsam mit Kommunen, Händlern und Stadtplanern entwickelte Zukunftskonzepte vitale, digitale und kreative Perspektiven schaffen“, so Dr. Jan Heinisch über geplante Unterstützungsmaßnahmen. Er wies darauf hin, dass noch Fördergelder in Höhe von 30 Millionen Euro aus dem Sofortprogramm Innenstadt zur Verfügung stehen. Kommunen könnten noch bis Ende April Anträge stellen. Zukünftig wird es nach Ansicht der Experten unerlässlich sein, Förderprogramme zu verstetigen und alle Beteiligten mit in den Stadtentwicklungsprozess einzubeziehen. „Niemand schafft es allein, unsere Innenstädte und den Einzelhandel wiederzubeleben“, betonte Ariane Breuer.
IHK-Hauptgeschäftsführer Jaeckel resümierte: „Nur durch eine enge Zusammenarbeit von Politik, Verwaltung, Standortgemeinschaften und Unternehmen sowie von Eigentümern und lokaler Immobilienwirtschaft wird es gelingen, attraktive und zukunftsfähige Innenstädte und Ortszentren zu erhalten oder wiederherzustellen.“ All diese Akteure gelte es nun jeweils vor Ort an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam neue Ideen für die Innenstadt von morgen zu entwickeln und umzusetzen. Dabei dürften auch die Verbraucher nicht vergessen werden: „Den Menschen vor Ort muss noch stärker bewusst gemacht werden, dass sie mit ihrem Einkaufsverhalten direkten Einfluss darauf haben, wie ihre Innenstadt oder ihr Ortszentrum in Zukunft aussieht“, betonte der Hauptgeschäftsführer der derzeit federführenden Ruhr-IHK Nord Westfalen. Jede Stadt müsse Konzepte für ihre eigenen Stärken entwickeln und umsetzen, so Ariane Breuer. „Die Initiative Stadtretter hat großen Zuspruch, bislang sind 650 Kommunen dabei, die voneinander lernen und sich miteinander austauschen.“ Die Maßnahme für alle Städte gebe es nicht. Was macht uns aus und wo wollen wir hin? Die Frage nach ihrer eigenen Identität und Alleinstellung müsse letztendlich jede Kommune für sich beantworten.
Den Handlungsdruck verdeutlichte auch das Ergebnis der abschließenden Umfrage unter den Teilnehmern der Veranstaltung. 77 Prozent der Teilnehmer „machen sich Sorgen“, wenn sie an die Zukunft ihrer Innenstadt denken, nur 15 Prozent sagen, dass sie „gut aufgestellt“ ist.
IHK-Handelsreport Ruhr
Der IHK-Handelsreport Ruhr und eine Aufzeichnung des IHK-Handelsforums Ruhr wird im Internet veröffentlicht unter www.ihkhandelsreport.ruhr.
Vor zwei Jahren war die Niederrheinische IHK in Duisburg Gastgeber im Lehmbruck Museum: In der Rückschau von heute durchaus mit beachtenswerten Inhalten.
© 2021 Petra Grünendahl (Text)
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