Resilienz, Widerstandswille und der Wunsch nach Freiheit im eigenen LandVon Petra Grünendahl
Olena steht vor dem zerstörten Apartment-Haus in der Nähe von Kiew, in dem sie mit ihrem Mann und ihren Zwillingen gelebt hatte. Zu den wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten, gehören ein paar Puppen ihrer Kinder. Nur ein Beispiel von vielen, seit am frühen Morgen des 24. Februar 2022 die ersten aufheulenden Sirenen, Fliegeralarme und anrollende Panzerverbände ihre Welt grundsätzlich verändert hatten: Der Angriffen der russischen Streitkräfte auf die Ukraine war gestartet. In der Hauptstadt Kiew werden Menschen aufgefordert, sich vor den Luftangriffen in Schutzräume wie Keller oder beispielsweise U-Bahn-Schächte zu begeben. Der Reporter Jan Jessen ist in diesem ersten Tagen vor Ort, wo er eigentlich eine ganz andere Geschichte schreiben wollte. Er erlebt, wie Menschen – überwiegend Frauen, Kinder, die Alten – nach Westen flüchten, die Männer zur Verteidigung ihres Landes eingezogen werden. Sie verlieren ihr Zuhause, ihre Heimat: Das gilt für die Geflüchteten ebenso wie diejenigen, die bleiben in den Trümmern ihrer Existenz: Inmitten der von russischen Angreifern zerbombten Städte und der Trümmer leben Menschen, deren Schicksale durch diesen ungewollten Krieg verändert wurden. Sie haben ihre Männer in den Krieg geschickt, haben Angehörige verloren, viele auch ihre Heimat. Manche sind geflüchtet aus diesem Land, dessen Wiederaufbau (ebenso wie das Ende dieses Krieges) noch in weiter Ferne steht. Jan Jessen und Reto Klar haben ihre Geschichten aufgeschrieben und fotografiert: Sie geben diesen Schicksalen im kriegsgeschüttelten Land Namen und Gesichter, die nur einzelne Beispiele sind für die vielen Millionen Opfer des Krieges.
Das Buch „Leben in einem Albtraum“ von Jan Jessen und Reto Klar zeigt in Texten und Bildern, „Was der Krieg in der Ukraine mit den Menschen macht“, so der Untertitel. In 25 Kapiteln findet der Leser die Reportagen und Bilder, die Jessen und Klar von ihren Reisen durch das Kriegsgebiet mitgebracht haben. Ukrainer machten ihnen ihr verlorenes Leben und die Verluste von Kindheit und Jugend zugänglich, die das Land noch auf Jahrzehnte prägen werden, selbst wenn die Ukraine letztendlich ihre Unabhängigkeit bewahren kann. Jan Jessens Reportagen reichen von den ersten Kriegstagen 2022 bis zum Frühjahr 2023 (das Buch ist bereits im August 2023 erschienen). Sehr einfühlsam und eindringlich schildert Jessen die Schicksale der Menschen, die Reto Klar in berührenden Fotografien festgehalten hat. Dafür haben Autor und Fotograf viele Gegenden des Landes bereist, um die Stimmen und Geschichten der Menschen einzufangen. Dieses Buch ist ein bisschen Rückblick, aber gleichzeitig auch eine Erinnerung daran, dass der andauernde Krieg immer noch die Schicksale von Menschen steuert, die ihm nicht entkommen: Das darf nicht in Vergessenheit geraten!
Die Ukraine
Die Bilder von den zerbombten Städten und Dörfern, die in den ersten Kriegsmonaten 2022 noch die Nachrichten beherrschten, sind mittlerweile weitgehend aus der Berichterstattung verschwunden. Und damit das Bewusstsein in Deutschland und der Welt für einen Krieg, in dem sich immer noch Menschen in der Ukraine gegen die Einnahme durch das benachbarte Russland wehren. Der Krieg ist allgegenwärtig in einem Land, das um den Erhalt seiner Unabhängigkeit und die Freiheit seiner Menschen kämpft.
Seit die Bevölkerung der seit 1991 unabhängigen* Ukraine 2014 seine russlandfreundliche Regierung gestürzt hatte, gab es Spannungen mit dem großen Nachbarn, der in der Folge die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim besetzte und russische Separatisten in der Ostukraine unterstütze. Warnungen vor russischen Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine hatte es schon Ende 2021 gegeben, aber niemand hatte wirklich mit einer kriegerischen Handlung gerechnet. Bis zu den Luftangriffen und zum Einmarsch von Truppen, die in Grenznähe sowie in der Ostukraine schnelle Erfolge verbuchen konnten. Der Einmarsch Richtung Kiew konnte gestoppt werden. Seitdem haben die ukrainischen Streitkräfte die Russen in vielen Schlachten zurückgeschlagen und manches verlorene Territorium zurückerobert.
Der Autor, der Fotograf und das Buch
Jan Jessen, geboren 1972 in Münster, ist seit 1998 bei der NRZ als Politikredakteur und für die Funke Mediengruppe als Krisenberichterstatter tätig. Er hat bereits aus Afghanistan, dem Irak und Syrien berichtet. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen.
Reto Klar, geboren 1967, arbeitet seit den 1980er Jahren als Fotograf und ist heute Foto-Chef und Cheffotograf bei der Funke Mediengruppe. Er lebt mit seiner Frau und den zwei Töchtern in Berlin. Seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 reist er regelmäßig in die Ukraine und berichtet fotografisch aus allen Regionen des Landes.
Das Buch „Leben in einem Albtraum“ von Jan Jessen mit Fotos von Reto Klar ist im Essener Klartext Verlag erschienen. Das reich bebilderte 168-seitige Buch (16,5 x 23,5 cm) im Broschur-Klappumschlag ist für 19,95 Euro im lokalen Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-8375-2624-0).
Der Blick ins Buch. Fotos: Petra Grünendahl
Der Verlag
Der Klartext Verlag wurde 1983 gegründet, seit 2007 ist er Teil der Funke Mediengruppe. Seine Heimat liegt im Ruhrgebiet, wo auch der überwiegende Teil seiner Publikationen angesiedelt ist: Freizeitführer mit Inspirationen für Jung und Alt, Sachbücher, Ausstellungskataloge, Kalender und Bildbände. Die Reihen von Freizeitführern bieten Tipps für „Umsonst & draußen“ oder „Märchenhaft wandern“. Im Rahmen „Schönes NRW“ zeigen die Bücher Ziele und Gegenden, die man zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit oder ohne Motor erholen, zu Fuß die Gegend erkunden kann: Im Ruhrgebiet, im Sauerland, im Münsterland, entlang des Niederrheins oder durch die Eifel. Mit der „Von oben“-Reihe kann man Städte nicht nur im Ruhrgebiet, sondern in ganz Deutschland aus der Vogelperspektive bewundern. Und mit der Reihe „Irrtümer und Wahrheiten“ (bei ihrem Start im Verlagsprogramm hieß die Serie noch „Klugscheißer“) lernt der Leser Neues zu verschiedenen Orten, Themen und Fußballvereinen – unterhaltsam, fundiert und auch mit dem einem oder anderen Augenzwinkern.
www.klartext-verlag.de
*) nach einem Referendum mit 90,3 Prozent Zustimmung
© 2024 Petra Grünendahl (Text)
Fotos: Petra Grünendahl
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