Auf einmal lief die Rampe voll
Von Petra Grünendahl
„Ich hatte Todesangst“, erzählte Dr. Carsten Hesse. Seine Stimme klingt nicht mehr so fest, als er beschreibt, was um seinen Container unten an der Rampe (an der Wand auf der anderen Straßenseite) während der kritischen Phase auf der Loveparade 2010 in Duisburg passierte. Als sich die Rampe immer mehr füllte, suchten Menschen nach Auswegen. So drückten sie auch gegen die Bauzäune, die um den Container herum standen. „Wir ließen einzelne ein – einen Rollstuhlfahrer, Menschen kurz vor dem Kollaps –, damit sie über eine Leiter auf dem Dach des Containers aufs Gelände gelangen. „Ich hatte Angst, dass die Massen uns unter den Zäunen erdrücken.“
In den Zeugenstand hatte die 6. große Strafkammer des Landgerichts Duisburg im Verfahren gegen „Dressler und andere“ Dr. Carsten Hesse geladen. Der heute 48-Jährige war auf Seiten des Veranstalters für den gesamten Einlassbereich zuständig. Der Vorsitzende Richter Mario Plein ließ den damaligen Crowdmanager wie gehabt zunächst erzählen: Am 6. Mai 2010 habe ihn der Lopavent-Sicherheitschef Lutz Wagner kontaktiert, ob er als verantwortlicher Bereichsleiter die Eingänge zum Loveparade-Gelände am alten Güterbahnhof überwachen und den Personaleinsatz koordinieren wolle. „Die Planungen erschienen mir nicht unkritisch, aber es sind schon kritischere Veranstaltungen problemlos über die Bühne gegangen“, so Hesse. Bei drei weiteren Terminen – am 20. Mai, 22. Juni und 14. Juli – sei er mit den Planungen vertraut gemacht worden, erzählte er.
Gegen 7.30 Uhr sei er am Veranstaltungstag auf dem Gelände eingetroffen. Sechzehn Kameras, die er in seinem Container auf dem PC abrufen konnte, standen ihn für Überblicke über Rampe und Tunnel zur Verfügung. Neben einem normalen Funkgerät stand ihm ein Bündelfunkgerät für Gespräche zur Einsatzzentrale sowie den Lopavent-Mitarbeitern Günter Spohr und Lutz Wagner zur Verfügung. Einblick in die Geschehnisse an den Vereinzelungsanlagen an den Zugängen zur Karl-Lehr-Straße (an der Düsseldorfer bzw. Graben-/Kommandantenstraße) habe er nicht gehabt. Da sei er auf die Meldungen der dort Verantwortlichen angewiesen gewesen.
Verspätete Geländeöffnung sorgten schon früh für Rückstau der Anreisenden
Schon um 9.30 Uhr seien die Flächen vor den Vereinzelungsanlagen voll gelaufen, erzählte Hesse. Statt um 11 Uhr wurden (wegen Restarbeiten auf dem Gelände) die Anlagen erst gegen 12 Uhr geöffnet. Zu dieser Zeit sei er auch auf den gebrochenen Gullideckel aufmerksam gemacht worden. Mangels Alternativen habe man ihn mit einem Bauzaun überdeckt. Um den Druck von den Vereinzelungsanlagen im Westen (auf der Düsseldorfer Straße) abzubauen, seien sie zwischen 12 und 13 Uhr auf einmal geöffnet worden. Da keine Kommunikation zustande kam, sei er dorthin gegangen, um die Lage zu klären, so Hesse. Dem diensthabenden verantwortlichen Polizisten sei gar nicht klar gewesen, dass die Anlagen auch dazu da waren, die Zugänge komplett zu sperren, wenn Tunnel, Rampe oder Gelände voll gelaufen seien, erzählte der Crowdmanager. Dieser Beamte habe erst am Tag zuvor von seinem Einsatz in Duisburg erfahren. Wirklich vertraut gemacht ist er mit den Anforderungen seiner Tätigkeit wohl eher nicht. Es stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen der Beamte mitbringen würde, der ihn zum Nachmittag hin ablösen sollte. Denn gerade von Westen kamen Besucherströme in einer Intensität, mit der man wohl nicht wirklich gerechnet hatte.
Zu dieser Zeit sei der einströmende Besucherstrom noch handhabbar gewesen, sagte Hesse. Um 14 Uhr übernahm ein neuer Verbindungsbeamter seine Schicht im Container. Ein Bereichsleiter der Polizei, der eigentlich auch bei ihm im Container habe erscheinen wollen, erschien nicht. „Ich hatte Herrn Kaiser im Vorfeld als sehr kompetent kennen gelernt. Er hatte Erfahrungen von der Loveparade in Dortmund“, erzählte der Crowdmanager. Ab 14.30 Uhr habe es einen Rückstau die Rampe runter gegeben. Der Druck auf der Düsseldorfer Straße wurde wieder größer, Vorsperren aufgelöst. Dann kam der Schichtwechsel der Polizeihundertschaft auf der Rampe, bei dem ein- und ausfahrende Mannschaftswagen durch die Besuchermenge fuhren. Erst gegen 15.30 Uhr sei Bereichsleiter Happe (als Ersatz für Kaiser) bei ihm am Container gewesen. Um den Rückstau an der Rampe zu beseitigen habe er drei Maßnahmen vorgeschlagen, so Hesse: Die Vereinzelungsanlagen zu schließen, von oben keine Leute mehr über die große Rampe rauszulassen und die kleine Rampe zu öffnen. Er habe aber nur mit der Einsatzleitung über Funkgerät sprechen können, so Hesse. Dass erst eine Telefonkonferenz über seine Vorschläge beschließen musste, in die er mangels technischer Voraussetzungen gar nicht eingebunden werden konnte, sei ihn nicht klar gewesen, sagte Hesse. Erst um 15.45 Uhr kam das OK für die Sperrung. Der Bereitschaftspolizist Happe habe dann wohl die Polizeisperren auf der Rampe und in den Tunneln angeordnet, ohne dass er eingebunden oder informiert gewesen sei, so Hesse.
Gegen 16.30 Uhr bekam ein Krankenwagen Zugang von der Düsseldorfer Straße, nach dessen Durchkommen die Zugänge nicht sofort wieder geschlossen werden konnten. Als dieser ein paar Minuten später das Gelände wieder verließ, waren angesichts des Drucks von Besuchern die Zugänge gar nicht mehr zu zukriegen. Die Polizeikette im Westen war damit auch nicht mehr zu halten: Die Leute strömten ungehindert in den Tunnel und auf die Rampe. „Meine Hilferufe beantwortete die Einsatzzentrale damit, dass auf dem Gelände noch viel Platz wäre – und ich keine Ahnung hätte“, berichtete Hesse. „Es wurde immer enger auf der Rampe, weil die Leute oben nicht aufs Gelände kamen. Die Leute drängten von unten auf die Rampe: Die haben eine wahnsinnigen Druck erzeugt. Auch bei uns am Container.“ Und weiter erzählte Hesse: „Gegen 16.50 Uhr fuhr ein Polizei-Kastenwagen an uns vorbei. Das hat den Druck weiter erhöht. Durch die Masse von ein paar Tausend Leuten gingen Wellenbewegungen, weil sich nichts auflösen konnte. Ich hatte Todesangst, denn wir standen auch in unserem Container im Druck der Menschenmasse.“
Erst als von Westen die gestauten Besucher von Ordnungskräften aus dem Tunnel geholt und weg geschickt wurden – mit dem Argument: die Veranstaltung ist zu Ende! –, entspannte sich die Lage und Rettungskräfte konnten sich in Tunnel und Rampe und die Verletzten und Toten kümmern. „Mit der Entscheidung, die Veranstaltung weiter laufen zu lassen, hatte ich nichts zu tun. Aber diese Entscheidung war richtig“, so Hesse. Nach Abschluss der Veranstaltung sei auch der VIP-Eingang im Norden als Ausgang genutzt: Ein Vorschlag, den er schon im Vorfeld der Veranstaltung gemacht habe, sagte Hesse. Der sei aber damals abgelehnt worden. Er habe am Ende der Veranstaltung noch die Sicherheitskräfte trösten und aufbauen müssen: „Die waren völlig fertig. Weil sie meinten, das Geschehen sei ihr Fehler gewesen.“ Er habe ihnen gesagt: „Ihr seid nicht Schuld!“
Als Mario Plein anfing, ihn zu Einzelheiten und früheren Aussagen zu befragen, musste Carsten Hesse manches Mal passen: „Ich erinnere mich nicht mehr an alles. Es ist jetzt acht Jahre her. Vieles habe ich auch verdrängt. Mir haben sich andere Eindrücke eingebrannt!“ Dennoch wurde eines ums andere Mal deutlich, dass er als Verantwortlicher für den Geländezugang Zusagen bekommen hatte, die dann so nicht eingehalten worden waren. Aufgrund von Kommunikationsproblemen – technischer wie menschlicher Natur – war er nicht immer informiert oder konnte er Anweisungen an die Zuständigen an den Einlass-Stellen nicht kommunizieren: Ein Problem, welches mit Sicherheit zur Eskalation der Situation auf der Rampe beigetragen hatte. Seit Dezember 2017 müssen sich vor der 6. großen Strafkammer des Duisburger Landgerichts sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg (Bauaufsicht) und vier Mitarbeiter von Loveparade-Veranstalter Lopavent wegen fahrlässiger Tötung in 21 Fällen sowie fahrlässiger Körperverletzung verantworten.
© 2018 Petra Grünendahl (Text)
Fotos: Lars Fröhlich / Funke Foto Services (1), Lars Heidrich / Funke Foto Services (1), Petra Grünendahl (2)
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